Dass die Übersetzerarbeit eine stressige Tätigkeit ist, wissen die meisten Übersetzer. Und dass Stress kontraproduktiv ist, wissen in der Zwischenzeit nicht nur Psychologen. Während es immer noch möglich ist, unter stressigen Bedingungen einmalig Qualitätsleistung zu erbringen, ist Stress auf längere Sicht mit Sicherheit ein Mörder der Qualität. Stress ist in der Übersetzerarbeit immer dann, wenn der Druck eines Auftrages so immens ist, dass die Anstrengung auf der Zielgerade zur Qualitätsübersetzung lebensbedrohlich wird. Überlebt der Übersetzer einen solchen Auftrag, ist er mit Sicherheit bereit, zum Profi gekürt zu werden. Denn Profis wissen, wie wichtig es ist, den Text im Voraus gesehen zu haben, bevor man sich für oder gegen den Auftrag entschieden hat und wie weit die Textvorstellungen des Auftraggebers und des Übersetzers von einander liegen können. Ich erinnere mich immer noch an den Expressauftrag zur Übersetzung eines „einfachen“ Geschäftsbriefes. Diesen Auftrag habe ich per Telefon akzeptiert. Die Terminologie entpuppte sich als so komplex, dass die Einhaltung des Endtermins eine Heldentat war. Der Brief handelte von Zollvorschriften innerhalb des EU Rechts zusammen mit unternehmensspezifischen Begriffen, die erst recherchiert und festgelegt werden mussten. Ich hatte zwei knappe Stunden für die zweieinhalb Seiten. Die Zeit war zu kurz, um alle Begriffe endgültig festzulegen und alle Sätze schön präzise zu formulieren. Hier unterschied sich die Meinung des Auftraggebers, der den Brief als „einfach“ eingestuft und mich fast in den Wahnsinn getrieben hat, deutlich von meiner Erfahrung. Am Tag darauf war ich krank, da wohl allgemein bekannt ist, dass Stress in hohen Maßen krank macht. Die Qualität der Übersetzung hatte für mich bittere Folgen.
Ein anderes und sehr diskutiertes Thema ist der Preis. Übersetzung ist eine Leistung und als solche kostet sie Geld. Übersetzer investieren fortlaufend in ihre Qualifikation: CAT Tools, Fachwörterbücher, Fachbücher, Fachmitgliedschaften, Fachkonferenzen, Fachseminare – alles Geld. Der Zeitaufwand und die Anstrengung selbst auch. Genauso die Qualifikation, die man meistens über lange Jahre erworben hat. Vor einigen Monaten habe ich eine sensationelle Meinung eines Übersetzungsagentur-Inhabers gelesen, dass je qualifizierter der Übersetzer, desto weniger seine Anstrengung und desto niedriger der Preis seiner Leistung!? Erst mit der Erfahrung lernt man aber an diesen Aspekt unternehmerisch heranzugehen und ihn als unentbehrlichen Bestandteil der Übersetzerarbeit zu schätzen. Bekanntlich ist jeder einsteigender Übersetzer bereit, für ein paar Cents große Leistungen zu erbringen. Wird man erfahrener, versucht man den Preis möglicherweise nach oben auszudiskutieren. Denn man hat schon die Lehren gezogen. Die Übersetzung eines Textes wird immer umfangreicher und zeitaufwendiger, als man gedacht hat! Welch eine Erleichterung, wenn der Kunde sich entscheidet, den Preisvorschlag ohne Verhandeln anzunehmen! Man atmet richtig auf, als wäre dies ein Spaziergang in der frischen Luft des Waldes, nachdem man lange, lange Zeit an den Abgasen der Großstadt gelitten hat…
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